Amnesty Journal Argentinien 15. Oktober 2010

Das Fegefeuer der Überlebenden

Graffito an der Avenida de Mayo, Buenos Aires

Graffito an der Avenida de Mayo, Buenos Aires

Viele argentinische Schriftsteller beschäftigen sich mit den schmerzhaften Folgen der Militärdiktatur. Neuerscheinungen, gelesen von Wera Reusch.

Als sie diesen Roman schrieb, konnte Elsa Osorio nicht ahnen, welche Wirkung er haben sollte: "Mein Name ist Luz" dürfte weltweit das mit Abstand bekannteste Buch über die Militärdiktatur sein, die von 1976 bis 1983 in Argentinien herrschte. Seit seinem ersten Erscheinen 1998 wurde Osorios Weltbestseller in 16 Sprachen übersetzt.

In "Mein Name ist Luz" schildert die argentinische Schriftstellerin die Geschichte eines sogenannten geraubten Kindes. Diese wurden als Babys inhaftierten Regimegegnerinnen weggenommen und wuchsen in fremden Familien auf, ohne ihre wahre Identität zu kennen. Die "Großmütter der Plaza de Mayo" waren die ersten, die diese Verbrechen der argentinischen Militärs anprangerten und sich auf die Suche nach den vermissten Kindern machten. Elsa Osorio gelang es mit ihrem Roman, dieses Verbrechen einem breiten Publikum eindringlich vor Augen zu führen. Dafür erhielt sie 2001 von Amnesty International einen Literaturpreis, den die Organisation zu ihrem 40-jährigen Jubiläum erstmals verlieh.

Die juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur in Argentinien verlief äußerst stockend – erst 2003 hob das argentinische Parlament die Amnestie auf, die auf Druck der Militärs 1986/87 eingeführt worden war und ihnen weitgehende Straf­losigkeit garantierte. Viele namhafte argentinische Schriftsteller haben sich in den vergangenen Jahren mit der Militärdiktatur auseinandergesetzt. Mit ihren Werken trugen sie mit dazu bei, dass eine gesellschaftliche Debatte und schließlich auch die Straf­verfolgung in Gang kamen.

Dialoge mit "Verschwundenen"
Ende Januar starb der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez im Alter von 75 Jahren. Er war nicht nur ein bekannter Schriftsteller, sondern auch einer der renommiertesten Journalisten Argentiniens. 1975 ging er ins Exil, nachdem er von einer ultrarechten Todesschwadron bedroht worden war. Als letztes großes Werk hinterließ Martínez den Roman "Purgatorio".

"Dreißig Jahre war Simón Cardoso schon tot, als Emilia Dupuy, seine Frau, ihm zur Lunchzeit im Speiseraum von Trudy Tuesday begegnete" – so lautet der großartige erste Satz dieses Romans, der eine ganz besondere Liebesgeschichte erzählt. Der Kartograph Simón Cardoso wird 1976 vor den Augen seiner Frau von den Militärs entführt und taucht nicht wieder auf. Sie ist jedoch fest davon überzeugt, dass er noch lebt und sucht ihn verzweifelt in verschiedenen Ländern. Als die mittlerweile 60-jährige Emilia Dupuy ihren Mann schließlich in einem Restaurant in den USA trifft, ist sie überglücklich. Verwunderlich ist nur, dass Simón aussieht wie 30 und offenbar keinen Tag gealtert ist.

Er habe viel über den Schmerz derjenigen nachgedacht, die jemanden verloren hätten, sagte Tomás Eloy Martínez, als sein Roman 2008 auf Spanisch erschien. Vor allem über die Hölle und das Fegefeuer (Purgatorio), die es bedeute, nicht zu wissen, was mit der geliebten Person geschehen sei, wo sie sich befände, und ob sie noch lebe.

Eine ganz ähnliche Ausgangskonstellation findet sich in dem Roman "Wir haben uns geirrt" von Martín Caparrós. Die Frau des Ich-Erzählers Carlos "verschwand" 1976, und auch ihn lässt dieser Verlust nicht zur Ruhe kommen. 30 Jahre später erhält er Hinweise auf Personen, die in dem Folterzentrum tätig waren, in das man seine Frau gebracht hatte. Zu den damaligen Tätern zählt auch ein Priester, der inzwischen völlig unbehelligt in einem Dorf lebt. Für Carlos stellt sich die Frage, ob er seine Frau rächen soll, denn "Rache ist eine extreme Form des Erinnerns, eine verzweifelte Form, eine entschwindende Spur wiederzubeleben".

Der 1957 geborene Autor zählt zu den führenden Intellektuellen Argentiniens und lebte während der Diktatur ebenfalls im Exil. Mit der Figur des Carlos schuf Caparrós einen wütenden Anti-Helden, der mit aller Welt hadert und streitet, aber auch mit eigenen Fehlern hart ins Gericht geht: Seine Generation, die der militanten Aktivisten der siebziger Jahre, sei Illusionen und Größenwahn erlegen, so die These des Ich-Erzählers: "Unsere Versuche waren so untauglich, dass die, die über uns gesiegt ­haben, sie benutzten, um unser Land ungerechter, schmutziger und dümmer zu machen, als es gewesen ist, bevor wir uns vornahmen, es zu verbessern, und noch dazu haben viele von uns auf diesem Weg ihr Leben gelassen."

Von seinen ehemaligen Mitstreitern fordert Carlos eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Doch auch den offiziellen Erinnerungsdiskurs greift der Protagonist scharf an: Die derzeitige argentinische Regierung habe das Thema Aufarbeitung der Militärdiktatur gepachtet und bemäntele damit ihre unsoziale Politik, so sein Vorwurf. Der argentinische Schriftsteller stellt in "Wir haben uns geirrt" provokante Fragen und führt notwendige Debatten – kritisieren ließe sich allenfalls, dass sein Buch mehr als Streitschrift denn als Roman überzeugt.

Der Blick der nächsten Generation
Der Schriftsteller Martín Kohan wurde 1967 geboren. Er gehört damit zu der Generation, die die Militärdiktatur als Jugendliche erlebte. In seinem klugen Roman "Zweimal Juni", der im vergangenen Jahr auf Deutsch erschien, befasste er sich mit dem Thema Folter und der Mitwirkung von Medizinern daran. Dabei erzählt er die Geschichte aus der Perspektive eines Wehrpflichtigen, der einem Militärarzt als Chauffeur dient. Jetzt ist Martín Kohans neuer Roman "Sittenlehre" erschienen. Er spielt 1982, während des Falklandkriegs, an einem Elite-Gymnasium in ­Buenos Aires. Patriotismus, Disziplin und Moral werden groß geschrieben, deshalb hat jede Klasse neben den Lehrern noch eine eigene Aufsichtsperson.

Eine dieser Wärterinnen steht im Mittelpunkt des Romans. Die 20-Jährige muss für Ruhe sorgen, für ordnungsgemäße ­Appelle und für korrekte Haarschnitte. Ihr Arbeitseifer geht so weit, dass sie heimlich auf der Jungentoilette Wache hält, um die Schüler, die nur wenig jünger sind als sie, beim Rauchen ertappen zu können. Im Laufe des Romans gerät die für Zucht und Ordnung zuständige Aufseherin zunehmend in innere Konflikte und verliert die Kontrolle über die Situation. Zu einer kritischen Haltung ist sie jedoch nicht in der Lage, auch kann sie nicht erkennen, dass sie selbst ein Rädchen im Getriebe der allgemeinen Repression ist.

Martín Kohan wählte für seine Bücher über die Militärdiktatur junge Erwachsene als Protagonisten, die sich nicht eindeutig als Opfer oder Täter klassifizieren lassen, und lotet an ihrem Beispiel die Rolle und Funktion von Untergebenen aus. "Sittenlehre" benennt klar die Verantwortung des Einzelnen innerhalb eines Systems, das auf Kontrolle und Unterordnung abzielt. Gleichzeitig hat der Autor aber durchaus auch Sinn für die absurden und tragischen Aspekte im Leben einer Mitläuferin.

Verschiedene argentinische Autoren haben versucht, die ­Militärdiktatur aus der Sicht von Kindern zu schildern, so zum Beispiel Marcelo Figueras in seinem wunderbaren Roman "Kamtschatka". Inzwischen gibt es aber auch literarische Werke von Autoren, die selbst als Kinder von der Militärdiktatur betroffen waren, wie Laura Alcoba oder Felix Bruzzone. Sie sind Kinder von Aktivisten und "Verschwundenen" und lassen autobiographische Erfahrungen in ihre Geschichten einfließen.

"Wenn ich jetzt mein Gedächtnis anstrenge, um vom Argentinien der Montoneros zu sprechen, von der Diktatur und dem Terror, (…) dann geht es mir weniger darum, mich zu erinnern, als herauszufinden, ob ich danach anfangen kann zu vergessen", heißt es in Laura Alcobas Roman "Das Kaninchenhaus".
Er beschreibt das Leben einer Siebenjährigen, deren Eltern dem bewaffneten Widerstand angehören. Als ihr Vater inhaftiert wird, müssen ihre Mutter und sie untertauchen. Sie leben unter falschem Namen in einem Haus, in dem auch die Druckerei der Bewegung untergebracht ist – nach außen getarnt als Kaninchenzucht. Anhand alltäglicher Szenen wird die tiefe Verunsicherung des Mädchens deutlich, das ständig befürchten muss, etwas falsch zu machen, entdeckt oder verraten zu werden.
Auch in den Erzählungen von Félix Bruzzone spiegeln sich autobiographische Erfahrungen. Der Band trägt den schlichten Titel "76" – dies ist das Jahr des Militärputschs und das Geburtsjahr Bruzzones. Sein Vater "verschwand" kurz vor seiner Geburt, seine Mutter wenige Monate danach. Wie er selbst, sind auch die Protagonisten seiner Erzählungen ohne Eltern aufgewachsen – in vielen der Geschichten spielen Großmütter eine prominente Rolle. Einige der jungen Männer in Bruzzones Erzählungen haben Alpträume, führen ein unbehaustes Leben, andere wollen herausfinden, was damals geschah. "Vieles, was ich tue, steht – oft ohne dass ich mir dessen bewusst bin – in Zusammenhang mit meinen Nachforschungen über das Verschwinden meiner Eltern", heißt es in einer der Erzählungen. Zu erwähnen, "dass meine Eltern während der Diktatur verschwanden, (…) ist gleichsam meine Visitenkarte".

Die Vergangenheit hat bei den heute erwachsenen Kindern der damaligen Aktivisten tiefe Spuren hinterlassen.

Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Köln.

Argentiniens Diktatur
Im März 1976 putschte sich das argentinische Militär unter Jorge Rafael Videla an die Macht. In dem "schmutzigen Krieg", der folgte, ließ die Militärregierung etwa 2.300 Menschen ermorden und 10.000 verhaften. Dies sind nur die nachweisbaren Fälle. Rund 30.000 Regimegegner "verschwanden" während der Diktatur bis 1983 spurlos. Die "Madres de la Plaza de Mayo" und andere Menschenrechtsgruppen, darunter auch Amnesty International, verlangen seit 1977 die Aufklärung dieser Verbrechen. Und ihr zäher Protest hat Erfolg: Gegen knapp 1.500 zivile und militärische Funktionäre wird heute ermittelt. Erst Ende April wurden der letzte Diktator des Landes, General Reynaldo Bignone, und sechs weitere hohe Militärs vom Bundesgericht zu Haftstrafen zwischen 17 und 25 Jahren verurteilt. Und die Aufklärung und Ahndung der Menschenrechtsverletzungen in Argentinien sind noch lange nicht abgeschlossen.

Argentinien als Gastland der Buchmesse
Argentinien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse vom 6. bis 10. Oktober. Aus diesem Anlass erscheinen zahlreiche Romane und Erzählungen argentinischer Schriftsteller auf Deutsch. Ungefähr ein Drittel der 200 Neuerscheinungen beschäftigt sich mit der Aufarbeitung der Militärdiktatur, darunter auch die im Text genannten:
Tomás Eloy Martínez: Purgatorio. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 320 Seiten, 19,95 Euro
Martín Caparrós: Wir haben uns geirrt. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Berlin Verlag, Berlin 2010, 336 Seiten, 22 Euro
Martín Kohan: Sittenlehre. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. ­Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 247 Seiten, 19,90 Euro
Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus. Aus dem Französischen von Angelica Ammar. Insel Verlag, Berlin 2010, 118 Seiten, 14,90 Euro
Félix Bruzzone: 76. Aus dem Spanischen von Markus Jakob. Berenberg Verlag, Berlin 2010, 144 Seiten, 19 Euro

Amnesty International ist auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3.1
am Stand E 121 vertreten.

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