Amnesty Journal Russische Föderation 08. Mai 2024

Das Preisschild der Freiheit

Das Bild zeigt eine Illustration, zwei junge Personen werden von Sicherheitskräften gesucht

Der inhaftierten russischen Künstlerin Alexsandra Skochilenko gelingt es trotz Zensur immer wieder, ihre Zeichnungen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Die russische Künstlerin Aleksandra Skochilenko ersetzte in einem Supermarkt Preisschilder durch Informationen über den Krieg gegen die Ukraine und wurde dafür inhaftiert. Auch im Gefängnis zeichnet sie weiter. Einige Werke stellte sie dem Amnesty Journal exklusiv zur Verfügung. 

Von Tigran Petrosyan

Kriege enden nicht dank der Krieger – sie enden dank der Pazifisten. Und wenn man Pazifisten ins Gefängnis steckt, rückt der lang ersehnte Tag des Friedens in weite Ferne." Das waren die letzten Worte von Aleksandra Skochilenko vor Gericht in Sankt Petersburg.

Der Kreml machte aus der Künstlerin eine Verbrecherin, so wie es die Regierung mit allen kritischen Stimmen macht, die sich öffentlich gegen den russischen Angriff auf die Ukraine äußern. "Jeder weiß, jeder sieht, dass Sie hier keine Terroristin vor Gericht stellen. Sie haben es nicht einmal mit einer Extremistin zu tun. Sie stellen nicht einmal eine politische Aktivistin vor Gericht. Sie machen einer Musikerin, einer Künstlerin und einer Pazifistin den Prozess", beschwor Skochilenko das Gericht. Doch am 16. November 2023 wurde Aleksandra (Sascha) Skochilenko wegen "Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die russischen Streitkräfte" zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Künstlerin befand sich bereits seit April 2022 in Untersuchungshaft, weil sie eine besondere Aktionsform gewählt hatte, um gegen den russischen Krieg zu protestieren: Im März 2022 ersetzte sie Preisschilder in einem Sankt Petersburger Supermarkt durch Informationen über den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Auf einem Preisschild mit dem ausgewiesenen Betrag von 4.300 Rubel stand anstelle der Artikelbezeichnung: "Stoppt den Krieg! In den ersten drei Tagen sind 4.300 russische Soldaten gefallen. Warum zeigt das Fernsehen das nicht?" Ein weiteres Etikett warnte die Käufer*innen: "Putin belügt uns seit 20 Jahren. Das Ergebnis dieser Lüge ist unsere Bereitschaft, den Krieg und das sinnlose Sterben zu rechtfertigen." Auf einem weiteren Preisschild wurde auf die russische Bombardierung ziviler Ziele in der Ukraine hingewiesen: "Die russische ­Armee hat eine Kunstschule in Mariupol beschossen, in der etwa 400 Menschen Zuflucht gefunden haben."

Noch immer ist das Echo auf die Preisschildaktion sehr groß. Skochilenkos Widerstand ist auch in der Haft ungebrochen. Sie malt und führt ein Gefängnis­tagebuch mit Illustrationen. Zu Beginn ihrer Haft waren ihre Zeichnungen nur schwarz und weiß. Mit der Zeit wurden sie dunkelblau, schließlich braun und schwarz. Ihre späteren Zeichnungen nehmen Farbe an: Mit Rot-, Gelb- und Grüntönen stellt sie mitunter ein fiktives glückliches Leben außerhalb des Gefängnisses dar – von der Sonne verwöhnt und von ihrer Freundin geküsst. Andere Bilder berichten vom Gefängnisalltag, davon, wie es sich in einer Zelle mit 18 Personen auf 35 Quadratmetern lebt, wo um jeden Zentimeter Lebensraum gekämpft wird. Wie sich die Frauen an langen Winterabenden mit einer Wärmflasche aufwärmen und sich auf der Toilette in wenigen Minuten waschen müssen.

Erlaubt sind nur sechs Buntstifte

Skochilenko verfolgt kein künstlerisches Konzept, bei dem immer mehr Farben erscheinen, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag. Ihre Farbgebung hat einen praktischen Grund: Zu Beginn ihrer Inhaftierung waren Buntstifte im Gefängnis verboten. So fertigte sie ihre ersten Zeichnungen mit einem schwarzen Kosmetikstift an. Als sie zur psychiatrischen Begutachtung in das Städtische Psychiatrische Krankenhaus Nr. 6 in Sankt Petersburg geschickt wurde, erhielt sie dort Aquarellstifte. In die Untersuchungshaft durfte sie jedoch nur drei davon mitnehmen: dunkelblau, braun und schwarz. Mit der Zeit wurde das Verbot von Buntstiften im Untersuchungsgefängnis aufgehoben, doch sind weiterhin nur sechs Buntstifte pro Person in einer Zelle erlaubt, erzählt sie.

Ihre Zeichnungen und ihre Worte sind ein Schrei aus der Gefangenschaft. Trotz der Zensur schafft sie es immer wieder, Botschaften an die Öffentlichkeit zu senden.

"Wir haben einen Fernseher, aber zu meiner großen Freude funktioniert er nicht. Auf Wunsch meiner Mitbewohnerin wurde ein neuer Fernseher versprochen, und ich erwarte diesen Tag mit Grauen. Es gibt auch ein Radio in der Zelle, und meistens genieße ich es, wenn es entweder ausgeschaltet ist oder Jazz läuft. Aber vor ein paar Tagen haben sie auf Drängen des Staatsanwalts überall in der Untersuchungshaftanstalt Lautsprecher installiert. Und jetzt läuft von morgens bis abends Radio 'Record' oder 'Dorozhnoe'. (Anm. d. R. Vor allem Mainstream-Tanzmusik). Das ist eine echte ­Folter für mich."

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

Twitter freischalten

Wir respektieren deine Privatsphäre und stellen deshalb ohne dein Einverständnis keine Verbindung zu Twitter her. Hier kannst du deine Einstellungen verwalten, um eine Verbindung zu den Social-Media-Kanälen herzustellen.
Datenschutzeinstellungen verwalten

Träume vom einfachen Glück

Skochilenko gehört zur LGBTQ-Community, einer laut Auffassung der russischen Justiz "extremistischen Bewegung". Wer lesbisch ist, hat es im Frauengefängnis doppelt schwer. Ihre Freundin Sofia Subbotina, von ihrer Partnerin Sonia genannt, durfte sie ein Jahr lang nicht sehen. "Das ist eine Anweisung von oben. Ich verstehe, dass dies eine weitere Möglichkeit ist, mich unter Druck zu setzen." Nur Besuche von nahen Verwandten sind zugelassen. Doch ihre Mutter und ihre Schwester wohnen in Paris, wie sie in einem Interview erzählte. Von ihrem Vater habe sie seit mehr als zwölf Jahren nichts mehr gehört, sie wisse nicht einmal, wo er sei. "Sonia ist meine Familie."

Subbotina, eine ehemalige Krankenschwester, die als Pharmazeutin in einer Apotheke arbeitet, ist zur Aktivistin geworden; ihre ganze Kraft investiert sie in die Freilassung ihrer Freundin. Im Gespräch mit Amnesty International erzählt sie, dass sie erst nach langem Ringen Sascha zweimal im Monat besuchen durfte. Briefe und Telefonate unterliegen weiterhin der Zensur. "Sascha ist meine Familie", sagt auch sie. Und genauso wenig wie Sascha will sie ihre Träume von einem normalen einfachen Glück, von Heirat und Zusammenziehen aufgeben: Sonia sagt im Interview, sie denke oft an Saschas zurückgelassene Gitarre, an die Musikabende, die sie zusammen organisierten, an die Zeit, als Sascha Menschen in der U-Bahn gemalt und ihr die Bilder geschenkt habe. Auch Skochilenkos Comics waren in Russland sehr beliebt. "Sascha hat ihre Depression in lustige Bilder verwandelt. Sie wollte Menschen helfen, ihre Depression zu überwinden", sagt Sonia. Der sich von Tag zu Tag verschlechternde Gesundheitszustand ihrer Freundin lässt ihr nun keine Ruhe.

Das Essen in den russischen Gefängnissen ist menschenunwürdig und verschimmelt. "Auch Teile einer Kakerlake hat Sascha serviert bekommen", erzählt Sonia. Ihre Freundin leidet an einer Herzerkrankung sowie an Zöliakie, ­einer genetisch bedingten Glutenunverträglichkeit. Gibt es keine angemessene Ernährung und wird die Zöliakie nicht behandelt, kann dies ernsthafte Folgen wie Organschäden, brüchige Knochen oder ein ­erhöhtes Krebsrisiko zur Folge haben, heißt es in einer Petition für Aleksandra Skochilenko. Auch Amnesty Interna­tional fordert, dass Skochilenko sofort und bedingungslos freigelassen werden muss.

Eine lächelnde Frau macht das Victory-Zeichen.

Die russische Aktivistin Aleksandra Skochilenko bei ihrer Verurteilung am 16. November 2023

Die Machthaber im Kreml hätten Angst vor einem Machverlust, ist sich die Künstlerin sicher, daher die Repression. "Für die sie reicht ein Anruf oder eine Unterschrift auf einem Papier, um jemanden ins Gefängnis zu bringen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie überhaupt verstehen, was es bedeutet, seiner Freiheit beraubt zu sein. Doch was ist mit den Ermittlern, Staatsanwälten, Richtern und Tausenden anderen Beamten, die die Repression in die Tat umsetzen?" Sie fragt, wie all diese Menschen gegenüber ihren Kindern den Sinn ihrer Arbeit rechtfertigen können. Der Tod von Alexej Nawalny hat auch sie entsetzt. "Alexejs Tod muss auf jeden Fall als langsamer Mord betrachtet werden – unter Folterbedingungen und Verweigerung von medizinischer Behandlung." Und wie viele andere politische Gefangene braucht auch Aleksandra Skochilenko gerade jetzt dringend medizinische Hilfe.

Die Künstlerin zeichnet ein realistisches Bild Russlands. Eine schöne Zukunft, wie sie die Kreml-Propaganda vorgaukle, habe ihr Land keineswegs zu erwarten: "Dieses schöne Russland ist ein Phantom, eine Utopie, an die wir alle glauben wollen, jeder auf seine Weise. Damit dieses Projekt auch nur ansatzweise verwirklicht werden kann, muss die Mehrheit der Bevölkerung kollektive Traumata überwinden und lernen, Verantwortung für ihr Haus, ihre Nachbarschaft, ihre Stadt und ihr Land zu übernehmen – und das wird so bald nicht der Fall sein."

Auch in Haft bleibt Aleksandra Skochilenko stark. Und sie bleibt dem treu, was sie in ihrem ersten Offenen Brief vor zwei Jahren geschrieben hat: "Egal, was meine Ankläger versuchen, mir anzutun, egal, wie sie versuchen, mich in den Dreck zu ziehen, mich zu demütigen, mich unter die unmenschlichsten Bedingungen zu zwingen, ich werde aus dieser Erfahrung das Strahlendste, Unglaublichste und Schönste hervorbringen – das ist die Essenz des Künstlerseins."

Weitere Artikel