Amnesty Report Ungarn 24. April 2024

Ungarn 2023

Eine Mutter mit Kindern steht auf einem Gleis am Bahnhof, im Hintergrund hält ein Zug, vor dem Menschen stehen.

Am Bahnhof von Záhony an der ukrainisch-ungarischen Grenze: Die junge Romni Valeria ist mit ihrer kleinen Tochter auf der Flucht vor dem Krieg. (Archivaufnahme von 2022)

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Mit der Verabschiedung eines umstrittenen Gesetzes sollten die Rechte von Lehrer*innen weiter eingeschränkt und kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Buchhändler*innen mussten wegen Verstößen gegen das homo- und transfeindliche "Propagandagesetz" Geldstrafen entrichten. Asylsuchende wurden daran gehindert, in Ungarn Schutz zu suchen. Um Zugang zu zurückgehaltenen EU-Geldern zu erlangen, verabschiedete das Parlament Justizreformen. Systembedingte Mängel, die das Recht auf freie Meinungsäußerung von Richter*innen untergruben, blieben jedoch bestehen. Die von der Regierung angestrebte Senkung der Treibhausgasemissionen blieb hinter dem EU-Ziel zurück.

Hintergrund

Um Zugang zu von der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat zurückgehaltenen EU-Geldern zu erhalten, versprach Ungarn, Antikorruptionsmaßnahmen zu verabschieden und umzusetzen, Gesetze bezüglich der Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) sowie der Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen zu ändern, die akademische Freiheit wiederherzustellen und Reformen einzuleiten, um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken. Als Reaktion darauf beschlossen die EU-Behörden, die eingefrorenen Gelder für Ungarn zum Teil wieder freizugeben.

Die Regierung verlängerte den Ausnahmezustand, indem sie den anhaltenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Vorwand benutzte, um die parlamentarische Entscheidungsfindung zu unterlaufen und ihre migrationsfeindliche Politik aufrechtzuerhalten. 

In einer Erhebung des European Implementation Network zur Frage, wie gut einzelne EU-Länder zentrale Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umgesetzt haben, kam Ungarn auf den letzten Platz. Das Land hatte 76 Prozent der Urteile aus den vergangenen zehn Jahren nicht umgesetzt. 

Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Im April und Mai 2023 setzte die Polizei immer wieder Tränengas ein, um Demonstrationen aufzulösen, bei denen Studierende gegen umstrittene Gesetze protestierten, mit denen das staatliche Bildungswesen weiter zentralisiert und kritische Lehrkräfte zum Schweigen gebracht werden sollten. Bei einer Demonstration im Mai nahm die Polizei fünf Teilnehmende fest, darunter vier Minderjährige, und inhaftierte sie, weil sie mutmaßlich Polizeibeamte angegriffen hatten. Das Parlament verabschiedete im Juli ein als "Rachegesetz" bekannt gewordenes Gesetz, mit dem die Autonomie von Lehrkräften weiter eingeschränkt und ihre Kritik an der Bildungspolitik zum Schweigen gebracht werden soll.

Lehrkräfte, die 2022 entlassen worden waren, weil sie sich an Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligt hatten, verklagten den Staat und versuchten ihre Entlassung rückgängig zu machen und Wiedergutmachung zu erhalten.

Unter dem Vorwand, für den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu sorgen, und ohne die rechtlichen Vorgaben für das Verbot zu beachten, untersagte die Polizei sieben Protestaktionen, bei denen Solidarität mit den Menschen in den besetzten palästinensischen Gebieten gezeigt werden sollte. 

Trotz massiver Kritik vonseiten des Europarats und einiger NGOs wurde im Dezember 2023 ein neues Gesetz verabschiedet, mit dem kritische Stimmen weiter zum Schweigen gebracht und Organisationen davon abgehalten werden sollen, sich an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen. Mit dem schwammig formulierten Gesetz wurde auch ein neues Amt eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, gegen Organisationen und Einzelpersonen zu ermitteln, die als "Bedrohung für die nationale Souveränität" betrachtet werden.

Diskriminierung

LGBTI+ 

Fünfzehn EU-Mitgliedstaaten sowie das Europäische Parlament versuchten weiterhin, mit einem Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gegen das 2022 verabschiedete sogenannte "Propagandagesetz" vorzugehen und die Rechte von LGBTI+ zu stärken. Das Gesetz verbot die "Förderung und Darstellung von Homosexualität und Geschlechtsangleichung" in linearen Medien (z. B. Fernsehen). Das Verfahren war Ende 2023 noch nicht abgeschlossen. 

Die Behörden begannen, Sanktionen nach dem Propagandagesetz durchzusetzen, indem sie Geldbußen gegen Buchhändler*innen verhängten, die in den Jugendbuchabteilungen ihrer Läden Bücher mit Darstellungen von Homosexualität auslegten, anstatt diese in verschlossenen Verpackungen zu verkaufen. Eine Buchhandelskette legte Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Das Verfahren war Ende 2023 noch nicht abgeschlossen.

Im Juni 2023 befand der EGMR, dass Ungarn die Rechte von transgeschlechtlichen Menschen verletzt habe, da es kein angemessenes Verfahren für die Änderung des amtlichen Geschlechtseintrags zur Verfügung gestellt hatte. Das Urteil bezog sich auf einen Fall, der dem Verbot der Änderung des amtlichen Geschlechtseintrags im Jahr 2020 vorausgegangen war. 

Mit der Begründung, dies würde "Homosexualität fördern", verweigerte die Medienbehörde die Genehmigung für einen TV-Werbespot für das alljährliche Budapest Pride Festival und die Pride Parade. Die Organisator*innen legten Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein. Das Verfahren war Ende 2023 noch anhängig.

Im Juli 2023 wurde eine in Regenbogenfarben lackierte Bank, die zum Budapest Pride Festival aufgestellt worden war, von Fußballfans und Rechtsextremen mehrmals mutwillig zerstört. Sie hinterließen den gesprühten Schriftzug "Stop LGBTQ", der einen direkten Bezug zur anhaltenden homo- und transfeindlichen Regierungspolitik herstellte. Die polizeilichen Ermittlungen zu dem durch Hass motivierten Vandalismus waren Ende 2023 noch nicht abgeschlossen. 

Frauen 

In seinem regelmäßigen Bericht über Ungarn zeigte sich der UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) sehr besorgt über die reproduktiven Rechte in Ungarn und kritisierte vor allem den eingeschränkten Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen sowie die Verstärkung von Geschlechterstereotypen durch die Regierung. 

Nach wie vor hatte Ungarn das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) nicht ratifiziert, welches das Land 2014 unterzeichnet hatte. 

Im Gleichstellungsindex von 2023 des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen kam Ungarn in der Gesamtbewertung unter den 27 EU-Mitgliedsstaaten auf den 26. Platz. In Bezug auf den Indikator "Macht" (Vertretung von Frauen in den höchsten Ebenen von Politik, Wirtschaft und Verbänden) belegte das Land den letzten Platz. 

Rom*nja 

Rechtsextreme Gruppierungen organisierten eine Reihe von Protesten in Rom*nja-Vierteln, um Rom*nja einzuschüchtern. Die Polizei ergriff keine geeigneten Maßnahmen, um die Bewohner*innen vor Drangsalierungen und Drohungen zu schützen. Nach wie vor waren Rom*nja in den Bereichen Beschäftigung, Wohnen und Bildung Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt. 

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Der Europarat verabschiedete eine vorläufige Resolution, mit der Ungarn aufgefordert wurde, die Kollektivausweisungen nach Serbien zu beenden und Abhilfe zu schaffen. Doch die Kollektivabschiebungen von Flüchtlingen und Migrant*innen setzten sich das ganze Jahr 2023 über fort. Bis Ende Dezember wurden 100.108 Personen abgeschoben. 

Im Juni 2023 entschied der EuGH, dass Ungarn gegen EU-Bestimmungen verstoßen habe, indem es Asylsuchenden den Zugang zu Schutz sowohl auf seinem Staatsgebiet als auch an den Grenzen verwehrte. Die Regierung erhielt ein 2020 eingeführtes System weiter aufrecht, das es Menschen erschwerte, in Ungarn Asyl zu beantragen. Dies war nur dann möglich, wenn zuvor eine sogenannte "Absichtserklärung" in Schriftform bei den ungarischen Botschaften in Belgrad oder Kiew eingereicht und akzeptiert worden war. Ende 2023 hatten nur 16 Personen unter diesem System die Möglichkeit erhalten, Asylanträge zu stellen. Die Einschränkungen galten nicht für ukrainische Flüchtlinge, von denen seit dem im Jahr 2022 erfolgten russischen Angriff auf die Ukraine 40.605 vorübergehenden Schutz erhalten hatten.

Der EGMR entschied in sechs Fällen, dass Ungarn die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen verletzt habe, indem es Menschen willkürlich inhaftiert und an den Landesgrenzen exzessiver Gewalt ausgesetzt hatte. 

Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

Das Ministerkomitee des Europarats rügte Ungarn im März 2023 in einer vorläufigen Resolution dafür, dass das Land noch immer nicht das Urteil im Fall Baka gegen Ungarn von 2016 umgesetzt hatte. Mit diesem Urteil sollte das Recht auf freie Meinungsäußerung für Richter*innen gewährleistet und die abschreckende Wirkung aufgehoben werden, die die Einschränkung dieses Rechts unter ihnen ausgelöst hatte. 

Im Mai 2023 verabschiedete Ungarn bedeutende Justizreformen, um Zugang zu zurückgehaltenen EU-Geldern zu erhalten. Die Reformen stärkten die richterliche Unabhängigkeit und schränkten die bisher übermäßigen Befugnisse des Landesgerichtsamts ein, das für die zentrale Verwaltung der Gerichte zuständig ist. Laut einer Einschätzung von NGOs waren die Forderungen der EU jedoch nach wie vor nicht vollständig erfüllt. 

Regierungsvertreter*innen und regierungsfreundliche Medien denunzierten weiterhin Richter*innen beim Landesrichterrat, wenn diese Regierungsstrategien kritisierten, die eine Beschränkung der Unabhängigkeit der Justiz zum Ziel hatten. 

Recht auf eine gesunde Umwelt

Laut der Klimaplattform Climate Change Performance Index hat Ungarn sich verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 50 Prozent zu senken. Damit bleibt das Land hinter dem EU-Ziel einer Reduktion um mindestens 55 Prozent zurück.

In mehreren Städten protestierten Menschen bei den lokalen Verwaltungsbehörden gegen die Eröffnung von Fabriken durch in China ansässige Batteriehersteller ohne vorherige gründliche Studien zu den Auswirkungen auf die Umwelt. 

Nach einer im September 2023 erlassenen Regierungsverordnung hatten Firmen, die gegen Umweltauflagen verstießen, keine Konsequenzen zu befürchten, wenn sie sich vertraglich dazu verpflichteten, solche Verstöße in Zukunft zu unterlassen. 

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