Amnesty Journal Deutschland 12. Februar 2024

Unmittelbare Demokratie

Menschen in Berlin auf der Straße mit palästinensischen Flaggen: eine Demonstration, im Hintergrund der Fernsehturm am Alexanderplatz

Im Einzelfall zu prüfen: Palästina-solidarischer Protest (Berlin, November 2023)

Das Recht auf Protest ist vor Generationen erkämpft worden. Nun muss es verteidigt werden gegen einen Staat, der gern auf Nummer sicher geht.

Ein Essay von Paula Zimmermann

Das Frauenwahlrecht, das Streikrecht, die Ehe für alle – drei Beispiele von vielen, die noch vor 150 Jahren undenkbar waren. Seither haben Menschen diese Errungenschaften erkämpft. Sie haben sich gemeinsam für Ziele eingesetzt, haben demonstriert und mit Worten und Taten zivilen Ungehorsam geleistet. Kurz: Ihr Protest hat gewirkt. 

Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Versammlungsfreiheit und damit das Recht auf Protest fast poetisch als "Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren". Als Kernelement gelebter Demokratie also. Und auch internationale Menschenrechtsabkommen wie die Allgemeine ­Erklärung der Menschenrechte schützen die Versammlungs- und Meinungsfreiheit als zentrale Bestandteile einer freien und offenen Gesellschaft. 

Wie steht es derzeit um das Recht auf Protest? 

Ein Blick auf die Plätze und Straßen der Welt zeigt eine enorme Breite an Protestbewegungen. Menschen lehnen sich auf gegen autoritäre Staatsapparate, gegen die Ausbeutung und Verschmutzung der Umwelt, gegen Krieg, soziale ­Ungerechtigkeit und viele andere Menschenrechtsverletzungen. Ihre Mittel sind vielfältig und beschränken sich nicht auf Demonstrationen. 

Im Iran nehmen Frauen ihr Kopftuch ab, um gegen die geistliche und politische Führung zu kämpfen. Die russische Künstlerin Aleksandra Skochilenko nutzte Supermarktregale für ihren Protest gegen den Krieg in der Ukraine. In China leistete die Bürgerjournalistin Zhang Zhan Widerstand, indem sie sich über die Zensur hinwegsetzte und über die Realität im Land aufklärte. Doch die Beispiele zeigen auch, dass auf Protest oft genug staatliche Repression folgt: Aleksandra Skochilenko, Zhang Zhan und Hunderte Protestierende im Iran sitzen hinter Gittern. Sie wurden ihrer Freiheit beraubt, weil sie sich für ihre und ihrer Mitmenschen Freiheit ­einsetzten. Amnesty International hat im Jahr 2022 in 79 Ländern willkürliche Inhaftierungen von Protestierenden dokumentiert. In mindestens 29 Ländern wurden Gesetze erlassen, die die Versammlungsfreiheit untergraben, einschränken oder abschaffen. In 85 Ländern wurden Proteste gewaltsam niedergeschlagen, in 33 haben Sicherheitsbehörden Protestierende getötet. 

Versuch der Kriminalisierung

Mit der Kampagne "Protect the Protest" will Amnesty in Deutschland nicht nur auf die fehlende Versammlungs- und Meinungsfreiheit in anderen Ländern zeigen. Amnesty nimmt auch die Versammlungsfreiheit in Deutschland in den Blick. Die Bundesrepublik gilt im internationalen Vergleich oft als Leuchtturm individueller Freiheiten. Um den "politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine" zu bewahren, muss dies jedoch stets kritisch reflektiert und überprüft werden. Denn eine Erosion dieser Freiheiten ist möglich, ihr Fortbestand keineswegs selbstverständlich. 

Konfrontiert mit unbequemen, politisch teils unliebsamen Protestbewegungen und -formen, wird der Konflikt zwischen widerständiger Versammlungsfreiheit und staatlicher Versammlungskontrolle allzu oft zugunsten der Kontrolle entschieden. Dabei geraten Grundfesten des verfassungsrechtlichen Verständnisses der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als für die Demokratie schlechthin konstituierende Grundrechte ins Wanken. Gut beobachten lässt sich das derzeit beim politischen Umgang mit ­Klimaaktivist*innen und mit Palästina-solidarischem Protest. 

Vor allem Protestaktionen der Letzten Generation erregten im ersten Halbjahr 2023 die Gemüter. Orangene Westen vor grauem Asphalt, dahinter entrüstete Autofahrer*innen – dieses Bild dominierte in den Medien. Politiker*innen schimpften über Ökoterrorist*innen, eine Klima-RAF oder über Straftäter*innen, die "die volle Härte des Rechtstaates zu spüren ­bekommen" oder direkt "weggesperrt werden" sollen. Solche Aussagen stellen den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung infrage und versuchen zugleich, den Protest zu kriminalisieren. 

Friedlicher politischer Protest

Ja, dieser Protest stört. Die Sinnhaftigkeit mancher Methoden ist strittig. Aber als friedlicher politischer Protest ist er von der Versammlungsfreiheit geschützt, er darf stören. Wo Straftaten begangen werden, müssen sich die Aktivist*innen der Strafverfolgung stellen. Und das tun sie auch. 

Mancherorts fühlt sich der Staat ­derart herausgefordert, dass er mit repressiven Maßnahmen weit über das Ziel hinausschießt. In Bayern werden Klimaaktivist*innen bis zu einen Monat lang präventiv inhaftiert. Eines der schärfsten Schwerter staatlicher Gewalt, der Freiheitsentzug, wird also zur Abschreckung gegen Menschen gerichtet, die friedlich protestieren wollen. Sogar wegen "Bildung einer kriminellen Vereinigung" wird ermittelt. Dieser Straftatbestand gibt den Behörden ein riesiges Arsenal an Ermittlungsbefugnissen an die Hand. Die Behörden nutzen es, um über die Letzte Generation hinaus auch andere Teile der Klimabewegung auszuspähen. Das ist ein Angriff auf die Zivilgesellschaft. 

Auch Proteste, die sich solidarisch mit den Rechten von Palästinenser*innen zeigen, fordern den Staat besonders heraus. In Essen fand Anfang November eine Palästina-solidarische Demonstration statt, auf der ein islamisches Kalifat gefordert wurde, anschließend wurden Verbotsforderungen laut. Tatsächlich verboten wurden in Berlin 2022 und 2023 sämtliche Demonstrationen rund um den Nakba-Gedenktag am 15. Mai. Seit dem 7. Oktober, als Kämpfer der Hamas mehr als 1.200 Menschen in Israel töteten, wurden bundesweit außerdem umfassende Versammlungsverbote erlassen; betroffen waren auch geplante Demonstrationen unter dem Motto "Frieden in Nahost".

Verbote sind gefährlich

Die Versammlungsfreiheit gilt nicht unbegrenzt. Ein präventives Totalverbot ist allerdings das letzte Mittel im Versammlungsrecht. Vorher müssen alle anderen Maßnahmen abgewogen werden. Im Umgang mit Palästina-solidarischem Protest scheinen sich Vorabverbote jedoch als Standard zu etablieren. Damit wird das Prinzip der Einzelfallbetrachtung im Versammlungsrecht systematisch verletzt. 

Diese Verbote sind gefährlich: Wegen ihrer Pauschalität und wegen ihrer teils rassistisch anmutenden Begründung. Der "arabischen Diaspora in Deutschland" wird in den Verbotsbescheiden oft eine starke "Emotionalisierung" und teils sogar eine "deutlich aggressive Grundhaltung und Gewaltbereitschaft" zugeschrieben, die dann als Indiz für eine Gefahrenprognose und damit für ein Verbot herangezogen wird. 
Überall dort, wo strafbare Handlungen begangen werden, weil zu Hass oder Gewalt aufgerufen wird oder Straftaten gebilligt oder getätigt werden, müssen handelnde Personen individuell zur Verantwortung gezogen werden. Man darf bestimmte Protestformen oder -aussagen für geschmacklos oder politisch verwerflich halten, im Einzelfall kann sogar ein Versammlungsverbot angemessen sein. Das rechtfertigt jedoch keinen Generalverdacht gegen Personen, die als muslimisch oder arabisch wahrgenommen werden und die angesichts der Blockade, der schweren Bombardierungen und der Vertreibung innerhalb des Gazastreifens Trauer, Sorge oder Wut öffentlich kundtun wollen.

Gerade in aufgeladenen politischen Gemengelagen ist es wichtig, dass Polizei und Behörden differenziert, verhältnismäßig und sorgfältig agieren. Sie müssen stets im Einzelfall und unter strenger Berücksichtigung der Grundrechte abwägen und auf diese Weise die Meinungs- und Versammlungsfreiheit für alle wahren.

Paula Zimmermann ist Fachreferentin für Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei Amnesty in Deutschland.

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