Amnesty Journal 22. April 2020

Armutszeugnis für alle

Zwei Mediziner in OP-Schutzkleidung stehen vor einer Glasschiebetür und applaudieren.

Die weltweiten Gesundheitssysteme waren auf Covid-19 schlecht vorbereitet. Sparprogramme und Privatisierungen haben ihre Spuren hinterlassen.

Von Uta von Schrenk

In der Coronakrise wird das Recht von Millionen Menschen auf Schutz von Gesundheit und Leben erheblich verletzt. Und dies ist offensichtlich nicht nur in Schwellen- und Entwicklungsländern der Fall. Auch im Globalen Norden brachen zuletzt die Gesundheitssysteme reihenweise unter der Last der zu versorgenden Fälle zusammen und wurden besonders Schutzbedürftige nicht ausreichend versorgt.

In Italien erlagen Tausende der neuartigen Lungenerkrankung Covid-19 unversorgt zuhause, weil kein Krankenhausbett für sie frei war. In Spanien starben die Bewohner von Altersheimen gleich flurweise. In Deutschland scheiterten die Kommunen an einer angemessenen Versorgung der stark gefährdeten Obdachlosen. In den USA traf die Erkrankung besonders ärmere Bevölkerungsgruppen wie Afroamerikaner und Latinos. In Griechenland wütet das Virus in überfüllten Flüchtlingslagern.

Wieder einmal wird sich zeigen, dass die größten Verlierer auch in einer Pandemie die Ärmsten sein werden.

Ernst-Ludwig
Iskenius
Mitglied des Amnesty-Aktionsnetzes Heilberufe

"Das Virus ist für vulnerable Bevölkerungsgruppen besonders gefährlich, weil ihr Immunsystem unter anderem durch Armut, Umweltverschmutzung, erhöhten Stress und Hunger schon herabgesetzt ist und die individuellen Abwehrkräfte geschwächt sind", warnt Ernst-Ludwig Iskenius, Arzt in Rente und langjähriges Mitglied des Amnesty-Aktionsnetzes Heilberufe. "Wieder einmal wird sich zeigen, dass die größten Verlierer auch in einer Pandemie die Ärmsten sein werden."

Wie schlecht die weltweiten Gesundheitssysteme auf den Pandemiefall vorbereitet waren, hat der Global Health Security Index bereits im vergangenen Jahr gezeigt. Der globale Durchschnittswert liegt lediglich bei 35,9 von 100 möglichen Punkten. Ein "extrem niedriger Durchschnitt", schreibt das internationale Forscherteam der Studie.

Die Ursache für die derzeit mangelnde Gesundheitsversorgung und die damit einhergehende Einschränkung von Grundrechten sieht Iskenius schlicht in "Kostengründen". In Europa hatten Italien, Spanien oder Frankreich im Zuge der Finanzkrise nach 2010 ihre Gesundheitsausgaben deutlich gesenkt und die Systeme stark privatisiert. Während es nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Deutschland 34 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner gibt, sind es in Frankreich 16,3, in Spanien 9,7 und in Italien 8,6. Wohl auch deswegen mussten sie während der ersten Epidemiewelle bis Mitte April hohe Sterberaten in Kauf nehmen.

Deutschlands Personalmangel

Selbst das in Europa vergleichsweise gut ausgestattete Gesundheitssystem in Deutschland, weltweit nach dem Global Health Index auf Platz 14, ächzt angesichts der Wucht der Epidemie. Hier sind nicht mangelnde Ressourcen das Problem, sondern der eklatante Personalmangel – in der Pflege und Ärzteschaft, aber auch in der Hygiene oder in den Gesundheitsämtern.

Viele Probleme, die wir heute haben, etwa der Mangel an Pflegekräften und die Personalprobleme auf den Intensivstationen, sind hausgemacht und fallen uns in der Krise auf die Füße.

Ärzteverband IPPNW

Vor der Coronakrise musste eine Pflegekraft in deutschen Krankenhäusern im Schnitt 10,3 Patienten versorgen, wie Zahlen der OECD zeigen. Damit ist Deutschland europäisches Schlusslicht. Zum Vergleich: In Norwegen pflegt eine Kraft nur 3,8 Patienten. Für eine angemessene Versorgung in den deutschen Kliniken fehlen nach Angaben der Gewerkschaft ver.di insgesamt 162.000 Stellen. Die Versorgung in den Kliniken leidet vor allem unter der Finanzierung durch Fallpauschalen. Sie schaffen den Anreiz, möglichst viele Behandlungen möglichst effizient abzuwickeln, also mit wenig Personal und einer kurzen Liegedauer der Patienten.

"Viele Probleme, die wir heute haben, etwa der Mangel an Pflegekräften und die Personalprobleme auf den Intensivstationen, sind hausgemacht und fallen uns in der Krise auf die Füße", heißt es beim Ärzteverband IPPNW. Selbst die Schließung ganzer Kliniken war – zumindest vor der Epidemie – politisch gewünscht. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung empfiehlt, von den derzeit knapp 1.400 Krankenhäusern nur noch deutlich weniger als 600 Kliniken weiterzubetreiben.

Das "beste Gesundheitssystem der Welt"?

Beschämend ist die Lage in den USA. Deren Gesundheitssystem gilt als das beste der Welt, auch der Global Health Index sieht es exzellent auf eine Pandemie vorbereitet. Doch dort verschärften unkalkulierbare Faktoren die Lage – etwa ein Präsident, der die Epidemie zu Beginn nicht ernst nahm, oder ein reichweitenstarker Sender wie FOX News, der die Gefahren herunterspielte.

Zum anderen ist der Zugang zum System nicht diskriminierungsfrei. Es gibt keine gesetzlichen Krankenkassen. Millionen US-Bürger können sich aber keine private Krankenversicherung und folglich auch keine Behandlung leisten. Seit Obamacare sind zwar 91 Prozent der US-Amerikaner krankenversichert. Für Ältere und Behinderte greift die sozialstaatliche öffentliche Krankenversicherung Medicare, für die Ärmsten Medicaid. Bleiben aber fast 28 Millionen, die nach Daten des Census Bureau nicht versichert sind und womöglich nicht in der Lage sind, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wie rassistisch das US-Gesundheitssystem zudem ist, zeigt nun die Coronakrise. In New York ist die Sterberate von Afroamerikanern und Latinos, die sich mit dem Virus infiziert haben, mehr als doppelt so hoch als die von weißen Erkrankten. In Milwaukee machen Schwarze gar über 80 Prozent der Covid-19-Todesfälle aus. Zudem erkranken People of Color deutlich häufiger an Covid-19.

Die Ursachen dafür sind vielfältig: Mehr als ein Fünftel der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA lebt in Armut. People of Color sind seltener krankenversichert und leiden vermehrt an chronischen Erkrankungen. Sie arbeiten häufig als Busfahrer, Bauarbeiter oder Putzkraft, und sind damit einer Ansteckung in der Öffentlichkeit stärker ausgesetzt. Die NGO National Association for the Advancement of Colored People stellt bitter fest, dass das Virus die jahrzehntelange wirtschaftliche Diskriminierung aufdecke. Denn People of Color hätten "nicht das wirtschaftliche Polster, um diesen Sturm zu überstehen".

Und jenseits des Globalen Nordens?

Doch wenn schon in den reichen Ländern des Globalen Nordens zu Tausenden gestorben wird, wie sieht es dann in jenen Ländern West- und Zentralafrikas aus, die das Global-Health-Index-Team als besonders schlecht für eine Epidemie gerüstet sieht, deren Gesundheitssysteme schon ohne Pandemie kaum entwickelt waren und in der Lage sind, der Bevölkerung eine Grundversorgung in krisenfreien Zeiten zu bieten?

In Uganda etwa gab es vor der Coronakrise für 43 Millionen Bürger lediglich 75 Beatmungsgeräte. In der von Bürgerkrieg und Ebola geplagten Demokratischen Republik Kongo waren es für 80 Millionen Einwohner 200 Beatmungsgeräte. "In den ärmsten Ländern des Südens wird eine solche Pandemie ihre verheerenden Folgen erst noch zeigen", sagt Iskenius vom Aktionsnetz Heilberufe. "Die Weltressourcen für Materialien wie Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Tests, Beatmungsgeräte sind dann so knapp, dass sie nur mit erhöhten Preisen bezahlt werden können. Schon jetzt sind massive Verteilungskämpfe zwischen den reichen Ländern ausgebrochen."

Bereits Ende März hatte die UNO beschlossen, von der Coronakrise besonders gefährdete Länder "umgehend" mit medizinischem Material, Aufklärungskampagnen sowie Einrichtungen zum Händewaschen in allen Flüchtlingslagern auszurüsten – in einem Umfang von 2,2 Milliarden US-Dollar bis Ende des Jahres. Die insgesamt 38 Staaten liegen vor allem in Afrika und im Nahen Osten, aber auch in Asien und Lateinamerika. In Europa ist es die Ukraine, die besondere Hilfe benötigt. All diese Länder waren bereits vor Beginn der Coronakrise auf humanitäre Programme der UNO angewiesen, haben ein unzureichendes Gesundheitssystem oder viele Flüchtlinge und Binnenvertriebene.

Wie wichtig weltweit einheitliche Lebensstandards und der diskriminierungsfreie Zugang zu medizinischer Versorgung für alle sind, erklärte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres: "Ohne schnelle Unterstützung für die besonders schwachen und hilfsbedürftigen Länder wird sich das Coronavirus nicht nur dort verbreiten, sondern von dort auch wieder in Staaten und Weltregionen zurückkehren, in denen das Virus zunächst erfolgreich eingedämmt wurde."

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